Mahut 2007 - „Eine Reise zur Quelle des Ganges“
Expeditionsbericht 6
Gefährliches Spiel
Der Elefantenbulle „Raju“ legt die ersten Kilometer in einer unglaublichen Geschwindigkeit zurück, sodass wir Allahabad schon bald hinter uns gelassen haben. Von Anfang an sind wir sehr beeindruckt von Jadov, dem freundlichen Mahut. Jadov erzählt uns, dass er schon seit elf Jahren mit „Raju“ zusammenlebt. Unglaublich sind seine Fähigkeiten und das Geschick, diesen gewaltigen Elefanten unter Kontrolle zu halten.
Wir sind gezwungen, uns an den gesteckten Zeitplan zu halten, denn die Gluthitze, mit Temperaturen bis 47 Grad Celsius, kriecht immer schneller aus dem Süden von Indien in die Gangesebenen. Früh zeitig um 4.00 Uhr stehen wir täglich auf, zuerst wecken wir unseren Mahut Jadov und dann Singh, unseren Freund und Dolmetscher. Nur schemenhaft entdecken wir „Raju“ in der Dunkelheit. Um ihn nicht im Schlaf zu erschrecken bleibt unsere Lampe aus. Wie ein Riesenbaby liegt er friedlich auf der Seite und schnarcht ganz leise durch seinen Rüssel. Kaum geweckt, hebt er das Hinterbein, holt Schwung und steht auf allen Vieren. In den ersten Tagen sollen wir noch ein wenig Abstand halten, bis sich „Raju“ an uns gewöhnt hat, somit muss Jadov die 100 Kg schwere Hodah (Elefantensattel) mit allen Einzelteilen selber aufladen. Nur wie soll das gehen, aus vier Metern Höhe? Wir glauben unseren Augen nicht zu trauen: wie mit einem Staubsauger werden auf Jadovs Kommando die Einzelteile mit dem Rüssel angesaugt und der Reihe nach über den Kopf zum Mahut hoch gegeben. Schnell wird uns klar, wie intelligent Elefanten wirklich sind.
In der Mittagshitze verweilen wir meist unter weit ausladenden Bodhi- und Banianbäumen, gönnen „Raju“ eine lange Pause und somit genug Zeit zum Fressen. Schnell werden riesige Äste vom Baum geschlagen, ca. 100 bis 200 Kilogramm, welche dann als Futter gerade mal 3 oder 4 Stunden reichen. Zum Glück sind Elefanten in Indien heilig, sodass jeden Tag unzählige Inder „Raju“ Opfergaben zustecken, um auf diese Weise ihre Segnung zu erhalten. Viele Leckereien, wie Melonen, Zuckerrohrstangen, Gurken, Kürbisse, Bananen, Kekse und orientalische Süßigkeiten. Mensch, dem geht es besser als uns. Wir dagegen leben aus unserer überdimensionalen Blechkiste auf unserer Fahrradrikscha, wo wir verschiedene Lebensmittel deponiert haben, um jeden Abend zu kochen.
Die Nachtlagersuche gestaltet sich nicht immer so einfach. Wo kann man nur schell mal einen 4m hohen Elefanten parken? Die indische Landbevölkerung ist jedoch unglaublich entspannt und hat kein Problem mit diesem seltsamen Besuch. Im Gegenteil, meist schaut das ganze Dorf dabei zu, wie wir unser Lager aufschlagen. Manchmal sind es allein schon hundert Kinder, die endlich mal eine Abwechslung haben, da die meisten nicht zur Schule gehen und entweder den ganzen Tag herumlungern oder sehr hart für ihre bettelarmen Familien mitarbeiten müssen.
Umso weiter wir in Richtung Norden laufen, umso öfter begegnet uns auch Hanuman (Affengott – Ramayana Epos). Viele Affen leben hier auf den Bäumen, mit langen Schwänzen und pechschwarzen Gesichtern. Diese wahren Meister in der Fortbewegung lassen sich von unserem Anblick nicht aus der Ruhe bringen. Ganz im Gegensatz zu den vielen Pferdekarren denen wir begegnen. Beladen mit bis zu 10 Personen landen sie meistens fast im Strassengraben beim Anblick von „Raju“.
Nach über einer Woche Marsch, macht „Raju“ plötzlich seltsame Anstalten. Abends im Nachtlager schnauft er laut durch seinen Rüssel, um seine Abendmahlzeit schneller zu bekommen, 20 Fladenbrote. Manchmal bockt er auch, wenn nachmittags seine Hodah angeschnallt werden soll. Nachdem wir eines Tages näher hinschauen, wird uns klar was los ist, als wir ihn mit einem meterlangen “Liebesfeger” zwischen den Beinen erwischen. Unser Elefantenbulle kommt langsam in die Brunftzeit, die so genannte Mast. Schon bald rückt auch Jadov mit der Sprache heraus. Elefantenbullen in Liebesstimmung sind lebensgefährlich für Menschen, heißt es dann und er zeigt uns seine großen Narben auf dem Kopf und an der Schulter. Wir erfahren von ihm auch, dass Raju vor 11 Jahren seine zwei vorangegangenen Mahuts getötet hat.
Am nächsten Tag holt Peer für „Raju“ Futter mit der Axt vom Baum und zum Dank wollte dieser ihn gleich mit seinem baumstarken Rüssel küssen, was mit großer Wahrscheinlichkeit für Peer im Krankenhaus hätte enden können. Zum Glück konnte er „Raju“ noch schnell ausweichen. Jadov erzählt uns, dass wenn „Raju“ morgen in die Vollmast kommen würde, was jederzeit passieren kann, wir ihn sofort im nächsten Dorf für die kommenden 4 - 6 Wochen an einen Baum ketten müssten. Keiner dürfte den Elefantenbullen in dieser Phase nahe kommen, auch nicht der Mahut selbst.
Mit diesem Risiko laufen wir weiter und müssen später feststellen, dass „Rajus“ Fußsohlen nach über 200 Kilometern Wegstrecke durchgelaufen sind. Kleine Steine fressen sich wie Nadeln in die weichen Sohlen und wir müssen sie ganz vorsichtig wieder entfernen. Unser Mahut Jadov erklärt uns, dass nachdem „Raju“ zwei Menschen getötet hat, ihm die Fußsohlen eingeritzt wurden, damit er nicht weglaufen kann. Diese empfindlichen Stellen an seinen Füßen bestehen bedingt bis heute. Somit machen wir auch die lehrreiche Erfahrung, dass außerhalb seines natürlichen Lebensraumes kaum ein Elefant weiter als 200 bis 300 Kilometer am Stück laufen kann, da sich irgendwann die Fußsohlen durchschleifen.
Wir schaffen es bis Uno, zwischen den Millionenstädten Kanpur und Lacknow gelegen. Hier müssen wir leider sehr verfrüht von unserem Elefantenbullen „Raju“ Abschied nehmen, obwohl wir mit seinem Mahut Jadov eine Vereinbarung bis zum Ziel hatten. Die Mast ist zu diesem Zeitpunkt bereits zu weit fortgeschritten und die Füße des Tieres sind in einem schlechten Zustand, somit muss der Mahut seine Abmachung brechen. Für uns jedoch bedeutet dies abermals den Verlust unseres Wegbegleiters. Niedergeschlagenheit macht sich breit, wo sollen wir hier nur einen neuen Elefanten finden?
Gil & Peer